Psychosomatik und Selbstoptimierung

Immer mehr Menschen bemühen sich darum, ihr Leben, ihre Freizeit, ihr Gewicht, ihre Aktivitäten, ihr Essverhalten und sogar ihren Schlaf zu optimieren. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch ein Artikel in der SZ vom 27.2.16:

Unter der Überschrift: Darf’s ein bisschen mehr sein?“ heisst es im Untertitel des Beitrags: „Gesund oder krank- das wird zunehmend als Frage von Moral, Schuld und Verantwortung gesehen.“

In diesem Artikel findet sich auch ein interessanter Aspekt, der sich auf die Psychosomatische Medizin bezieht:

„Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass immer mehr Menschen den Druck verspüren, ihre Gesundheit unter Kontrolle zu haben und sich komplett dafür verantwortlich zu fühlen….Dies ist die Kehrseite der psychosomatischen Deutung von Krankheit und der populären Methode des Empowerments, die den Patienten ermächtigen will, sein Leiden selbst zu beeinflussen. Wenn der Umgang mit Krankheit so wesentlich für den Verlauf ist, erscheint es nur folgerichtig, sich verantwortlich zu fühlen, wenn es einem nicht gut geht.“

Ist das so ? Woran kann das liegen ?

Wenn Psychosomatik nur versucht, Verhalten zu verändern und Symptome zu behandeln, ohne ein tieferes Verständnis für die Krankheitsursachen zu entwickeln, dann hat die Autorin recht.

V.a. bei einigen verhaltenstherapeutischen Techniken wird Menschen suggeriert, sie hätten nur die falschen Dinge gelernt und sollten ein anderes Verhalten trainieren , um sich zu verändern und wieder gesund zu werden (Markgraf, Schneider: Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bassmann: Verhaltenstherapie, Wolken: Methoden der kognitiven Umstrukturierung).

Das lässt sich am Beispiel von Essstörungen gut beschreiben: in den Therapien, die sich v.a. auf das „dysfunktionale“ Verhalten konzentrieren, soll das Essverhalten normalisiert, die verzerrte Einstellung zu Körper und Gewicht systematisch in Frage gestellt werden, die Funktion des gestörten Essverhaltens deutlich gemacht und andere Bewältigungsstategieen erarbeitet werden (Thiele, Paul, 2000).

Dabei bleibt die emotionale Not der Betroffenen, die Probleme in den Familien, die Unsicherheit, die Unselbstständigkeit und die Funktion der Essstörung als Bewältigungsversuch, der wenigstens in einem Lebensbereich eine Form von Selbstständigkeit ermöglicht (allerdings auf Kosten der Gesundheit), unberücksichtigt (Hilde Bruch, 1972).

Wenn diese z.T. unbewussten Themen in Therapien keinen Platz haben, dann reduziert sich die Behandlung nur auf das Beseitigen der Symptome. Dann:

  • sollen sich Menschen anstrengen und Mühe geben. Dann werden sie gesund.
  • So verstanden, werden Krankheiten zu persönlichem Versagen.

Könnte das ein Grund dafür sein, dass sich schnelle Lösungen, positive Ansätze, unkomplizierte Problembeseitigungen in unserer Gesellschaft immer schneller, oft „viral“ verbreiten ?

Finden auch deshalb verhaltenstherapeutische Behandlungen immer mehr Verbreitung? Die Gesellschaft belohnt Anpassung, Funktionsfähigkeit und Funktionieren.

Andere Therapieverfahren, die sich um die tieferen, z.T. unbewussten Ursachen von Versagen bemühen, die den Ursachen auf den Grund gehen wollen, die unangenehme, schmerzliche Fragen stellen, haben es heutzutage zunehmend schwerer (Psychodynamische Therapien).

Dabei haben die meisten Menschen oft jahrelang selbst ergebnislos versucht, ihr Verhalten zu optimieren.

Deshalb kann es in Therapien nicht das zentrale Ziel sein, sich noch besser zu kontrollieren, zu optimieren und anzupassen. Menschen sollten stattdessen Hilfen dabei bekommen, die ihnen oft nicht zugänglichen Ursachen für ihre Symptome und Erkrankungen zu erkennen. Dann können sie z.t. erstmals spüren, was sie in diese oft verzweifelten und aussichtslosen Situationen gebracht hat.

Nur dann sind sie selbst in der Lage, die Automatismen zu durchbrechen, Ihr Verhalten selbst zu verändern, und aus dem „Hamsterrad“ des Funktionierens und der Anpassung auszusteigen.